Wie war das noch mal mit Gerechtigkeit in der Corona-Krise?

Wie unfair es ist, wenn die Politik vorrangig die bedient, die am lautesten schreien, die die größte

Lobby haben, zeigt sich in der Corona-Pandemie in besonderem Maße:
Vorrang für den männlichen Profifußball und für die großen Industriekonzerne – ganz gleich wie schlecht die Klimabilanz aussieht.

Deutlich weiter unten auf der Prioritätenliste kommen Familien, die mit ihren Kindern jetzt endlich wieder auf die Spielplätze dürfen – der Haken an der Sache: auf Spielplätzen können Infektionsketten nicht nachverfolgt werden. In der Kita ginge dies schon besser. Aber Kitas sind ja nicht so wichtig, jedenfalls stehen sie auf der Prioritätenliste weit unten. Verzeihung, werte Landesregierung, ich vergaß zu erwähnen, dass es Kindern von Eltern aus nicht systemrelevanten Berufen jetzt ja gestattet ist, noch zweimal vor den Sommerferien in die Kita zu gehen. Ist das nicht toll?

Ganz unten kommen dann die schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft, die, die von der Politik meistens vergessen werden.
Hierbei handelt es sich um eine sehr heterogene und große Gruppe aus sehr vielen Individuen.
In Schubladen gedacht zählen hierzu zum Beispiel Menschen mit Behinderung, einkommensschwache Familien, Alleinerziehende, Betroffene von häuslicher Gewalt, Obdachlose, Drogenabhängige, Geflüchtete in Sammelunterkünften, Menschen ohne Krankenversicherung oder in prekären Arbeitsverhältnissen… Ich könnte leider noch sehr viel mehr gesellschaftliche Gruppen nennen. Mir behagt jedoch dieses Schubladendenken nicht. Es gibt nicht den Menschen mit Behinderung, den obdachlosen oder geflüchteten Menschen. So fallen alleine unter dem Begriff Menschen mit (Schwer-)Behinderung in Deutschland 7,8 Millionen (1) Individuen.

Trotzdem greifen wir in der Corona-Krise noch mehr auf das Schubladen-Denken zurück. Wir unterteilen die Gesellschaft in Angehörige der Risikogruppe und solche, für die das Covid-19-Virus vermutlich weniger gefährlich ist. Begünstigt das nicht eine Unterteilung der Gesellschaft in produktive / arbeitsfähige und nicht leistungsfähige Menschen? Gerade mit der deutschen Vergangenheit sollten wir hier sehr aufpassen.

Können wir nicht einfach die Risikopatient*innen unter strenge Quarantäne stellen, so dass der Rest der Gesellschaft wieder zurück zur Normalität kehren kann?
Nein, können wir nicht, und zwar sowohl aus praktischen als auch aus ethischen und rechtlichen Gründen.

Der sogenannte „schwedische Weg“ (2) hat uns die fatalen Konsequenzen einer solchen Strategie gezeigt. Auch wenn sich viele Deutsche nach Normalität sehnen, wie sie die ganze Zeit über in Schweden geherrscht hat, ist der Preis für eine solche Normalität zu hoch. Die Mortalitätsrate ist in Schweden etwa dreimal so hoch wie in Deutschland.

Eigentlich sollten wir alle heilfroh und sehr dankbar sein, dass wir Zustände wie in Italien oder Wuhan in der ersten Welle vermeiden konnten. Stattdessen verbreitet sich die Schlussfolgerung, dass das Virus „gar nicht so schlimm sei“, in weiten Teilen der Gesellschaft. Das ist ein fataler Fehlschluss. Denn wir bewegen uns nach wie vor auf sehr sehr dünnem Eis.

Unsere pluralistische Demokratie lebt von einer Vielfalt an Meinungen. Daher ist auch Kritik an den Corona-Maßnahmen demokratisch erwünscht. Leider wird die Situation und die steigende Unzufriedenheit in der Gesellschaft von Akteur*innen ausgenutzt, die unsere Demokratie untergraben wollen und die die Bürger- und Menschenrechte mit Füßen treten. Eine Querfront von Rechtsextremist*innen und Anhänger*innen kruder Verschwörungsmärchen3/ -ideologien verbreiten durch Fake-News bis hin zu organisierten Desinformationskampagnen Unsicherheit und Hass. Sie heizen den Unmut regelrecht an und instrumentalisieren diesen für ihre Zwecke.

Daher lasst uns bitte, liebe Bevölkerung, weiterhin mit Menschlichkeit und Verstand die Situation betrachten. Lasst uns gemeinsam konstruktiv die Verhältnismäßigkeit der einzelnen Maßnahmen hinterfragen. Aber lasst uns nicht blindlings die „Normalität“ von vor der Pandemie verklären und eine Rückkehr zu dieser „ohne Rücksicht auf Verluste“ fordern. Bereits die aktuellen Lockerungen machen die Situation für Risikogruppen äußerst beängstigend und grenzen diese noch stärker aus.

Weiterhin solidarisch zu sein, ist der einzige Weg, um als Gesellschaft nicht durch die Krise weiter auseinanderzudriften. Und erkennen wir nicht eine starke Gesellschaft daran, wie sie mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht?

Anstelle des aktuellen Lockerungs-Wettlaufs müssen die Folgen der Schutzmaßnahmen / der Pandemie für die, die am meisten darunter leiden, abgefedert werden. Dazu zähle ich nicht die Lufthansa, sondern Alleinerziehende, Kinder, die auf ambulante / stationäre Jugendhilfe angewiesen sind. Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben. Betroffene häuslicher Gewalt, deren Recht auf körperliche (und psychische) Unversehrtheit verletzt wird. Obdachlose. Menschen in Krankenhäusern und Altenheimen sowie Menschen mit Beeinträchtigungen in Wohnheimen, deren psychische und geistige Gesundheit durch die strikten Besuchsverbote gefährdet ist. Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen. Geflüchtete in Sammelunterkünften. Menschen mit psychischen Erkrankungen. Angehörige der Risikogruppen und viele mehr – anders gesagt, ein bunter Blumenstrauß an Menschen, die die Situation besonders hart trifft.

Am Anfang der Corona-Epidemie in Deutschland waren Wissenschaft, Umsicht, Vorsicht und Solidarität handlungsleitend für Politik und Gesellschaft. An der Gefahrensituation hat sich seitdem kaum etwas geändert, außer dass die Infektionsrate temporär gesunken ist – das Virus ist nach wie vor ansteckend und gefährlich, und wir haben keine wirksamen spezifischen Therapien. Das bedeutet, dass auch in den nächsten Monaten Umsicht, Solidarität, Transparenz und Handeln auf wissenschaftlichen Grundlagen dringend geboten sind.
Die Krise bringt das Beste und Schlechteste im Menschen hervor. Vielleicht sollten wir alle darauf achten, dass das Positive überwiegt.

Wir brauchen endlich Konzepte – Konzepte in allen gesellschaftlichen Bereichen für die nächsten Monate – so lange, wie kein sicherer Impfstoff auf dem Markt ist. Konzepte für das Bildungs-, Sozial- und Gesundheitssystem, die neben den Hygienevorschriften auch ethische und psychosoziale Aspekte berücksichtigen.

Es gibt Querschnittthemen, die immer mitgedacht werden sollten. Dazu zählen beispielsweise soziale- und Geschlechtergerechtigkeit, Inklusion, Klima- und Umweltschutz, Nachhaltigkeit sowie Bürgerbeteiligung. All diese Aspekte müssen auch dann noch berücksichtigt werden, wenn durch wirksame Therapien die Pandemie wirklich unter Kontrolle ist. Und zwar auf nationaler, EU- und globaler Ebene.
Für nachhaltige und inklusive Gesundheit, Bildung und soziale Sicherheit dürfen wir nicht zum Status Quo von vor der Pandemie zurückkehren. Stattdessen muss durch Reformen und eine angemessene Finanzierung der Weg hin zu einem gerechten und nachhaltigen Bildungs-, Sozial- und Gesundheitssystem geebnet werden.

Der Begriff Verschwörungstheorie (3) hat immer den Beiklang einer wissenschaftlichen Theorie. Das ist sie aber nicht! Deswegen finde ich den Begriff „Verschwörungsmärchen“ angebrachter, weil er suggeriert, dass es sich dabei nur um Hirngespinste handelt – wenn auch brandgefährliche.

(1) https://leidmedien.de/startseite/behinderte-menschen-in-deutschland-zahlen-und-gesetze/

(2) Ziel: Herdenimmunität (nach und nach sollen sich genügend Leute anstecken, so dass sich das Virus nicht mehr in der Gesellschaft ausbreitet). Keine Verbote / Beschränkungen, sondern lediglich freiwillige Verhaltensanweisungen;
Schulen, Geschäfte, Restaurants – fast alle Einrichtungen bleiben geöffnet. Risikogruppen sollten besonders geschützt werden. Etwa die Hälfte aller Todesfälle sind in Einrichtungen (z.B. Altenheimen) mit vielen Risikopatient*innen zu verzeichnen, die allermeisten Verstorbenen sind über 70 Jahre.

(3) Der Begriff Verschwörungstheorie hat immer den Beiklang einer wissenschaftlichen Theorie. Das ist sie aber nicht! Deswegen finde ich den Begriff „Verschwörungsmärchen“ angebrachter, weil er suggeriert, dass es sich dabei nur um Hirngespinste handelt – wenn auch brandgefährliche.